Interview mit Dave Stringer
YogaRelations im Gespräch mit Dave Stringer, einem der bedeutendsten Kirtan Sänger.
YogaRelations: Wo liegen die Ursprünge des Kirtan?
Dave Stringer: Die Geschichte ist ein wenig unvollständig, weil es hauptsächlich mündliche Überlieferungen gibt. Kirtan geht zurück ins 15. Jahrhundert. Vorher gab es vedisches Chanten mit sehr komplizierten Mantren. Die Menschen, die diese gesungen haben, waren meist nur die Brahmanen, die in der oberen Kaste angesiedelt waren. Das Wissen wurde geheim gehalten und nicht mit gewöhnlichen Leuten geteilt. Die Yogaphilosophie war zum großen Teil in vedischen Chants enthalten, wie den Upanishads, verschiedenen Gitas und Sutras. Die Botschaften haben Allgemeingültigkeit für die Liebe und Göttlichkeit in allen Aspekten des Lebens und spielen eine essenzielle Rolle. Es ist möglich beim Lesen der Upanishads die Botschaften zu finden, wie jeder sich mit dem Potential des göttlichen Bewusstseins und der göttlichen Liebe verbinden kann.
YogaRelations: Wie fand Kirtan den Weg von den Brahmanen zum Volk?
Dave Stringer: Etwa im 15. Jahrhundert entsprang eine Bewegung, die sich Bhakti Bewegung nannte. Sie machten sich zur Aufgabe, die Lehren der Yogaphilosophie ernster zu nehmen. Diese Menschen waren entschlossen die Yogaphilosophie mit jedem zu teilen. Um diese Philosophie der breiten Masse zugänglich zu machen, die nicht sehr gebildet war, musste ein einfacher Weg gefunden werden, um die Inhalte zu übermitteln. Die Bhaktis begonnen daher die Botschaft des Yoga durch Praxis - nicht Theorie- dem Volk zu lehren, indem sie die Menschen es selbst erfahren ließen. Die Bhakti Bewegung war der Meinung, dass Erfahrung die beste Art sei sich Wissen anzueignen. Wenn man Gott erfahren möchte, dann geschieht dies, indem man direkt in die Erfahrung des ekstatischen Bewusstseins eintaucht.
YogaRelations: Und wie geht das?
Dave Stringer: Man erschafft Praktiken, die dieses Bewusstsein hervorrufen durch singen und tanzen. Die Bhakti Bewegung machte ihre Runden und lud Menschen zum singen und tanzen ein. Es stand eine starke gesellschaftliche Botschaft hinter dieser Bewegung: Wir sind im Herzen gleich und auch gleich in unserer Beziehung zum göttlichen. Die niedrigere Kaste Indiens hieß diese Botschaft der menschlichen Gleichstellung sehr willkommen, weil die Bhaktis sagten, man braucht nicht darauf zu warten, dass man in ein besseres Leben wiedergeboren wird, sondern das jetzige Leben nutzen soll, um die Ketten selbst zu sprengen und sich mit dem ekstatischen Bewusstsein der Göttlichkeit zu verbinden. Dadurch gelangt man zur inneren Freiheit.
Diese für viele Menschen wichtige Botschaft hat so etwas wie eine gesellschaftliche Revolution ausgelöst. Doch die Bhaktis bekamen von den höheren Kasten keinen Applaus. Vor allem die Brahmanen, die Angehörigen der obersten Kaste Indiens, waren darauf aus das yogische Wissen für sich zu behalten. Dennoch begann dadurch die Verbreitung der Yogaphilosophie ans Volk. Die Tatsache, dass es im Westen eine Yogabewegung gibt, kann auf diese Anfänge zurückgeführt werden. Auch wenn die Menschen in der Lage waren die vedischen Mantren zu chanten, waren sie dennoch sehr kompliziert und bedurften einem hohen Grad von ausgereiftem Sanskrit-Wissen und Ritualen. Kirtan hingegen war einfach - es war einfach zu singen, es war einfach zu verstehen und es war einfach zu erfahren.
YogaRelations: Was passiert beim Chanten?
Dave Stringer: Wenn ich chante, bin ich selten in einem Zustand ekstatischem Bewusstseins. Der setzt erst am Ende ein. Nach 1 bis 2 Stunden Mantren singen entspringt ein inneres Gefühl des Glücks und Wohlbefindens. Langes chanten fühlt sich einfach gut an. Dadurch erfährt man eine Bewusstseinsveränderung und öffnet den Raum um danach mühelos meditieren zu können.
YogaRelations: Und wodurch?
Dave Stringer: Die Gründe liegen
1. im Pranayama
2. in den vibrierenden Qualitäten der Mantren selbst
3. in der ekstatischen Erfahrung des Gruppensingens
4. im zeitbegrenzten Entschwinden der Alltagsprobleme
5. in der göttlichen Erfahrung, die größer ist als man selbst
Was auch immer die Wirkungen, sie alle sind beruhigend und heilend.
YogaRelations: Gibt es verschiedene Kirtanstile?
Dave Stringer: Es gibt tatsächlich viele Kirtanstile und es kommt darauf an, wo man es gelernt hat. Ich kann vorwiegend über den Stil sprechen, den ich selbst erlernen durfte. Es gibt einen Begriff: Gharna, es heißt übersetzt Schule. Und im Kirtan gibt es tatsächlich mehrere Gharnas. Ich habe in einem Siddha Yoga Ashram in Ganeshpuri in Indien gelernt. Dieser Stil legt seine Gewichtung zuerst auf das Halten des Rhythmus im langsamen Tempo für längere Zeit, der sich danach in einen schnelleren Rhythmus umwandelt, um schließlich zu einem Punkt zu kommen, der einer Gospel-Ekstase ähnelt. Innerhalb dieses Chants bewegen wir uns von einem tiefen, langsamen und meditativem Raum in einen ekstatischen, in dem geklatscht und getanzt wird. Am Kirtan Höhepunkt angelangt, entsteht eine wunderschöne, tiefe Stille, die von vielen Menschen zum Meditieren einlädt.
Ich weiß zu schätzen, was diese Art von Ereignis auslösen kann, weil es die Atmung vertieft und verlängert und den Geist zur Ruhe kommen lässt. Und genau das ist tiefes Prana. Während des langsamen Teils des Kirtans beginnen Gedanken aufzusteigen, die wir wahrnehmen. Manchmal denkt man, dass nichts beim Chanten passiert, es wiederholt sich immer alles, doch wenn das Chanten an Tempo zunimmt, was auf ganz natürliche Weise passiert, erfährt man einen Ansturm von Neurotransmittern, der Glückseligkeit auslöst. Nur dadurch, dass der Chant ganz langsam beginnt und er später schneller wird, wird dieses Gefühl der Glückseligkeit beim Chanten erreicht.
Chanten ist eine fundamentale Technologie um Glückseligkeitspeptide im Gehirn zu kreieren. Und Pranayama ist die Technologie, um diese Bildung von Peptiden im Gehirn zu regeln. Neben der Siddha Tradition gibt es viele Formen des Chants, viele unterschiedliche Kirtanstile für unterschiedliche Charaktertypen. Und genauso, wie es verschiedene Yogastile gibt, gibt es verschiedene Kirtanstile. Viele Kirtanstile fanden ihren Ursprung in den Ashrams Indiens und wenn man die Wurzeln der Bhakti Bewegung zurückverfolgt ist deutlich, dass diese Bewegung eine Schule war, die Kirtan praktiziert und gelehrt hat.
Mehr über Dave Stringer
Dave Stringer
Ursprünglich ausgebildet zum visuellen Künstler, Filmemacher und Jazz Musiker, hatte er seine erste prägende Erfahrung mit dem Chanten, als ihn die Arbeit an einem Film im Jahre 1990 in einen Siddha Yoga Ashram in Ganeshpuri, Indien, führte. Während seines Aufenthalts im Ashram entstand das Fundament für seine bis heute andauernden Studien, Ideen und die Musik des Yogas. Stringer tourt durch Nordamerika, Australien und Europa.
Fotos © Nic Frechen
von Andrea Danke
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